Der Bärlauch wächst in feuchten, humusreichen Laubwäldern, insbesondere in Buchenwäldern. Er nutzt die Zeit zwischen der Schneeschmelze und der Belaubung der Bäume, die ihm das Licht nehmen würde, um seine breiten, zarten, dunkelgrünen Blätter hervorzutreiben. Wenn diese Blätter durch Wind oder vorbeistreifende Tiere leicht verletzt werden, gerät das in ihnen enthaltene schwefelhaltige ätherische Öl an die Luft, wobei ein starker Knoblauchduft entsteht. Der Bärlauch wächst in Horsten und bedeckt den Waldboden im Vorfrühling oft in massiven Beständen, wobei der ganze Wald danach duftet.
„Ein Kraut, das starke Heilkräfte hat, verglich man einst mit Bären. Der Bärlauch trägt seinen Namen mit Ehren“
Wolf-Dieter Storl
Bärlauch (Allium ursinum)
Gegen Ende April fängt dieser wilde Verwandte der Küchenzwiebel und des Schnittlauchs an zu blühen. Die schneeweißen, duftenden, radiärsymmetrischen Blüten mit jeweils sechs Blütenblättern sind in Dolden zusammengefasst. Die Blüten leuchten wie kleine Sterne. Bienen, Hummeln, Schwebfliegen und Insekten mit kurzen Rüsseln laben sich an dem Nektar. Aus dem dreifächerigen Fruchtknoten der befruchteten Blüte geht eine Kapsel hervor, in der sich jeweils sechs schwarze Samen befinden. Die mit einer ölreichen Oberhaut versehenen Nüsschen sind für die Ameisen interessant: Diese finden die Samen, tragen sie weiter und lassen sie hier und da fallen. Zum Keimen brauchen die Samen Dunkelheit und Frost, das heißt, sie keimen erst im nächsten Frühjahr. Gegen Ende Mai werden die Blätter gelb und sterben ab. Derweil haben sich in der Erde schmale Zwiebeln gebildet, aus denen dann im nächsten Vorfrühling die neuen Blätter hervortreiben. Der Bärlauch ist in den Wäldern Eurasiens zu Hause, aber er fehlt im Mittelmeerraum.
Hier und da liest man, dass die Römer ihn als Heilmittel benutzten, aber das stimmt wahrscheinlich nicht. Die Ärzte der Antike kannten diese Lauchart kaum. Sie kultivierten und nutzten ja den verwandten, aus dem Orient stammenden, echten Knoblauch (Allium sativum), insbesondere dessen »Zehen« (Neben-zwiebeln) als Zauber- und Heilpflanze sowie als Gewürz und Nahrungsmittelergänzung. Früher machten es sich die Botaniker einfach: Der Bärlauch war ein Liliengewächs (Liliaceae). Basta! Dann erfand man für die Lauch- und Zwiebelgewächse eine eigene Familie, die Alliaceae. Inzwischen aber wird der Ramser, aufgrund molekulargenetischer Untersuchungen, zu den Amaryllisgewächsen (Amaryllidaceae) gezählt, zu denen unter anderem auch der hübsche Ritterstern (unsere » Amaryllis«), die Clivien, die südafrikanische Schmucklilie (Agapanthus) und die Narzisse gehören.
Name und Brauchtum
Die ältesten Namen dieser Pflanze in allen europäischen Sprachen außer im Lateinischen lassen sich auf das indogermanische *kromus zurückführen. Die urgermanische Bezeichnung war *hrameson. Daraus ergaben sich Benennungen wie Ramser, Rämsen und Rämsch, skandinavisch ramslök (= Ramslauch), englisch ramson; im Allgäu und im Schwäbischen ist es der Ramsen; Kräuterpfarrer Johann Künzle nennt den Bärlauch Rämschelen. Bei den Russen heißt dieser Waldknoblauch, der von Kaliningrad bis Kamtschatka wächst, ceremsa; und für die Iren ist es creamh. Die Liste der Kognaten, also der sprachverwandten Namen, ließe sich ums Vielfache erweitern. Wilder Knoblauch ist eine Benennung, die man hier und da in den verschiedenen Mundarten findet. Es ist der Bärenknoblauch, Waldknoblauch, wilder Knofl oder der Zigeunerknoblauch. Im Französischen heißt er ail de bois, im Italienischen aglio ursino
Am bekanntesten ist inzwischen wohl der Name Bärlauch, englisch bear’s leek. Kräuterpfarrer Künzle vermutet: »Den Namen Bärlauch gaben ihm die Alten, weil sie sahen, dass die Bären, nach langem Winterschlaf noch schwach und abgemagert, massenhaft dieses Kraut verzehrten und bald wieder die alte Stärke gewannen.« (Künzle 1977: 31). Da mag etwas dran sein. Es ist tatsächlich so, dass Meister Petz, wenn er seine Höhle verlässt, zuerst seinen immensen Durst mit frischem Wasser löscht. Dann sucht er sich, da er während der langen Winterruhe weder Urin noch Kot abgesondert hat, abführende Kräuter wie die scharfe Nieswurz, um die Gedärme wieder in Gang zu bringen und um das »Bärenpech« auszuscheiden. Erst dann setzt der sprichwörtliche Bärenhunger ein.
Bachehrenpreis, Kressen, Vogelmiere, junge Gräser, Sauerampfer, Schafgarbenschösslinge, sich gerade entrollende Farnwedel und selbstverständlich wilde Zwiebeln und der Ramser regen Stoffwechsel und Kreislauf an, befeuern die Drüsen und hemmen Gärungs- und Fäulniserreger im Darm. Es sind dieselben Kräuter, mit denen unsere Vorfahren ihre »Blutreinigungskuren« im Frühling machten, auch, um sich mit dem Geist des Lebens wieder zu verbinden (Storl 2016: 173).
Für die alteuropäischen Waldvölker, insbesondere für die Germanen, galten alle Pflanzen, die besonders starke Heilkräfte besitzen, die die Abwehrkräfte stärken, die Fruchtbarkeit anregen und besonders auffällig , kraftstrotzend oder behaart sind, als Bärenpflanzen. Zu ihnen gehörte das größte Kraut auf der Wiese, der Wiesenbärenklau (Heracleum sphondylium), die Bärentraube (Arctostaphylos; griechisch árktos= Bär und staphylè = Traube), der Bärlapp (Lycopodium), die Königskerze (»Bärenkraut«), die Bärwurz (Meum), die Große Klette (Arctium lappa), deren lateinischer Name nichts anderes als Bärenpranke (griechisch árktos = Bär, keltisch lapp = Pfote) bedeutet, die Große Brennnessel und viele andere.
Als Bärenkräuter wurden sie dem Götter- oder Asenbär (skandinavisch Asbjörn; englisch Osborn) geweiht, und dieser war kein anderer als der mächtige Donar (Thor, Thunar), der vollbärtige, rothaarige Gewittergott, der stärkste und größte unter den Asen. Er ist nicht nur ein Himmelsgott, er tritt auch als ein Sohn der Erde (Jardar Bur) in Erscheinung , der jeden Winter in Bärengestalt das unterirdische Reich der Erdgöttin, der Frau Holle, besucht. Sein Bärenhunger und Bärendurst sind berüchtigt. Sein Tatzenschlag sind die Blitze, mit denen er die Frost- und Eisriesen vertreibt, sodass es wieder Frühling werden kann. Er ermöglicht es, dass der Bärlauch sich aus der kalten Erde hervorwagt und den Menschen wieder Gesundheit, Verjüngung und Sinneslust schenkt. Er ist nämlich auch der Hüter der Fruchtbarkeit.
Beim nordgermanischen Hochzeitsritual wurde der Braut ein Thorshammer in den Schoß gelegt, damit sie viele gesunde Kinder zu gebären vermochte. Der lateinische Gattungsname Allium bedeutet nichts anderes als »Knoblauch« und ist ursprünglich mit dem lateinischen olere (»riechen«) verwandt. Der Artname ursinum geht auf lateinisch ursus (»Bär«) zurück.
Bärlauch sammeln
Wenn der Ramser blüht, ist die Sammelzeit vorbei. Dann kann man höchstens noch die Zwiebeln ausgraben. Man sollte beim Ernten jedoch behutsam und schonend mit der Pflanze umgehen: Sie sammelt ihre Lebenskraft mit den wenigen Blättern, die sie hat, und ohne sie kann sie keine neuen Zwiebeln bilden. Auch sollte man in der Bärlauchkolonie so wenig wie möglich herumtrampeln. Am besten gräbt man einige Zwiebeln aus und pflanzt sie im eigenen Garten ein – am besten an einer eher schattigen Stelle, auf einem humusreichen, feuchten Boden unter der Hecke. Der Bärlauch wird dankbar sein und sich schnell ausbreiten.
Es wird immer davor gewarnt, die Bärlauchblätter mit den tödlich giftigen der Herbstzeitlose (Colchicum autumnale) oder der Maiglöckchen (Convallaria majalis) zu verwechseln. Johann Künzle, für den der »Rämschele« ein treuer pflanzlicher Verbündeter war, schrieb einmal: »Kinder und ungeschickte Leute schicke man niemals aus, um Rämschelen sammeln, da sie leicht die giftige und todbringende Zeitlose heimbringen könnten. Der Geschmack der Rämschelen ist für unkundige Leute das sicherste Kennzeichen, da diese Pflanze gewaltig knobläuchelet, was bei der Zeitlose nicht der Fall ist.«
Quelle: Wolf-Dieter Storl
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